Kurzgeschichte: Deine kleine Welt
An deinem Arbeitsplatz ist es laut, sehr laut. Es wird gesungen, gejubelt, geflucht und gelacht. Du erträgst es mit stoischer Ruhe und starrst einmal mehr auf das herrliche Grün, das sich vor dir ausbreitet. Niemand kennt deine Sehnsucht, dich loszureißen und wegzulaufen. Kopf hoch und Zähne zusammenbeißen, lautet die Devise. Für das Privileg, hier zu stehen, müssen andere viel Geld zahlen. Im Gegensatz zu dir. Du wirst dafür belohnt.
Auf der Grünfläche rennen Menschen in Dienstkleidung eilig hin und her. Ab und zu fällt einer hin, um kurz darauf wieder aufzustehen.
Bei euch herrscht ein angenehmes Betriebsklima. Du genießt geregelte Arbeitszeiten und bekommst üppige Mahlzeiten vorgesetzt. Butler und Chauffeur sind dir zu Diensten. Mühelos meisterst du die dir gestellten Aufgaben.
Auch im Privatleben läuft es rund. Mit Freunden wohnst du mietfrei in einem komfortablen Heim mit Garten in zentraler Innenstadtlage, umgeben von interessanten Nachbarn. Du siehst passabel aus, versprühst einen umwerfenden Charme, bist zufrieden und ausgeglichen.
Aber die Zeichen der Zeit sind nicht spurlos an dir vorbeigegangen. Während du lächelnd hier stehst, lässt du dein Leben Revue passieren:
In bescheidenen Verhältnissen erblicktest du das Licht der Welt. Du hattest eine kurze Kindheit und andere nahmen dein Schicksal in die Hand. Bereits in jungen Jahren konntest du dich gegen starke Konkurrenz durchsetzen und eine unbefristete Stelle bei einem renommierten Arbeitgeber ergattern. Ohne Widerworte nahmst du den Namen des Vorgängers an und wurdest schon bald ein beliebter Kollege, der zwar gelegentlich meckert und auch schon mal Bockmist baut, aber ansonsten pflegeleicht ist. Leider stehst du immer ein wenig abseits.
Noch heute denkst du gerne an den Tag zurück, an dem ein Mitstreiter seinen Überschwang mit dir teilen wollte. Ihr hüpftet auf und ab und sprangt im Kreise umher. Das war noch nie vorgekommen und absolut nicht erlaubt. Der Sturm der Empörung, der daraufhin ausbrach, ging an dir vorbei wie der Nebel in den Tälern deiner alten Heimat.
Seit einigen Monaten ist die Stimmung an deiner Wirkungsstätte jedoch massiv getrübt. Die Menschen, die dich umgeben, sind enttäuscht und haben viele Tränen vergossen. Mitarbeiter kündigen oder werden krankgeschrieben, was bereits zu massiven Personalengpässen geführt hat. Die Verantwortlichen raufen sich die Haare.
Einer von ihnen kam sogar auf die Idee, dir einen anspruchsvolleren Job anzubieten. Du solltest die Kollegen in Zukunft tatkräftig unterstützen und nicht nur am Rande stehen und zusehen, wie sie sich abrackern. Dein Einverständnis wurde vorausgesetzt. Es scheiterte leider an Formalitäten und alles blieb beim Alten.
Die Situation spitzt sich allerdings weiter zu. Mit deiner Nonchalance ist es vorbei. Wie ein gefährlicher Virus breitet sich die Unzufriedenheit in dir aus.
Dann kommt der Tag, an dem man dir zum Frühstück vergammelte Möhren vorsetzt. Bereits auf dem Weg zum Dienst rumort dein Magen und du bist auf Krawall gebürstet. Dein Chauffeur fährt wie ein Anfänger. Unendlich lang erscheinende Stunden in diesem Tollhaus, in dem Frust und Unfähigkeit regieren, liegen vor dir. Nein, darauf hast du wirklich keinen Bock mehr.
Kaum hast du deine Limousine verlassen, ziehst du die Reißleine. Wie von Sinnen rennst du über die wunderschöne Wiese und führst einen Freudentanz auf. Keiner kann dich stoppen. Ein lang gehegter Traum geht in Erfüllung! Raus aus der Tretmühle und die Routine des Alltags durchbrechen.
Leider ist das Glück nicht von langer Dauer. Du wirst zurück an deinen angestammten Platz geführt und musst wie gewohnt mit ansehen, wie die Männer die leckeren Grashalme platt treten.
Wie eine dunkle Wolke schiebt sich plötzlich der Gedanke vor dein sonniges Gemüt, dass du schuld am Misserfolg und Frust der anderen sein könntest. Dir wird heiß und kalt zugleich.
Am Abend bist du völlig genervt und ziehst in Erwägung, dir einen neuen Arbeitgeber zu suchen oder dich ganz zur Ruhe zu setzen. Du bist in einem Alter, in dem jeder dafür Verständnis haben muss.
Doch fragst du dich, ob du deine Leute wirklich im Stich lassen kannst. Einfach den Kopf in den Sand stecken, als ginge es dich nichts an? Ihr hattet schließlich auch schöne Zeiten miteinander.
Bedächtig wiegst du das Haupt und knabberst zur Beruhigung an einem köstlichen Salatblatt.
Dann steht für dich fest: Aufgeben ist keine Lösung!
Du, lieber Hennes, wirst auch in Zukunft das Maskottchen vom 1. FC Köln sein. Und das ist toll.
Veröffentlicht 2018 in der Anthologie „Vom Bleiben und Schwinden“, Heider Verlag, Herausgeber Günter Helmig und Renate Beisenherz-Galas.