Kurzgeschichte: Die Katze an der Türklinke
„Siamkatzen sind etwas eigen“, sagte die Züchterin und überreichte meiner Mutter und mir ein cremefarbenes Tierchen mit braunem Gesicht und dunklen Pfoten. Aus hellblauen Augen schaute es uns neugierig an. Wir gaben ihm den Namen Muschka.
Als die junge Lady an diesem Abend, selbstbewusst bis in die Schnurrbartspitzen, in ihr neues Heim getragen wurde, zeigte mein Vater zunächst keine Reaktion. Wir hatten ihn gar nicht erst gefragt, ob eine Katze in unsere Etagenwohnung im Kölner Süden einziehen durfte.
In Windeseile erklomm der Neuzugang den heiligen Fernsehsessel, kroch in seine Armbeuge, kuschelte sich schnurrend an seinen Bauch und schlief sofort ein. Von diesem Tag an war Muschka unser neues Oberhaupt. Sie durchleuchtete jeden von uns wie ein Röntgengerät und kannte schon bald unsere Gewohnheiten.
Um sechs Uhr in der Früh begleitete das Kätzchen sein Herrchen laut quäkend auf dem langen Weg vom Schlafzimmer bis in die Küche. Der Rest der Familie wurde davon unsanft aus dem Schlaf gerissen. Am Kühlschrank angekommen, öffnete Papa nach der langen Nacht endlich eine Dose mit wohlriechendem Futter und danach kehrte wieder Ruhe ein.
Ging es einem Familienmitglied nicht gut, konnte es sich keine bessere Krankenschwester wünschen. Unser Goldstück spürte instinktiv, wo es wehtat, und legte sich vorsichtig auf die entsprechende Stelle. Bei Bronchitis lag Muschka auf der Brust, bei Knieschmerzen auf dem Knie. Kurz darauf waren die Beschwerden wie von Zauberhand verschwunden.
Saßen wir abends entspannt vor dem Fernseher, thronte sie auf dem Gerät und freute sich, dass wir stundenlang in ihre Richtung blickten. Die Geschichte spielte – das muss man erwähnen – zu einer Zeit, als es noch Apparate gab, die oben drauf genügend Liegefläche für eine Samtpfote boten und eine gemütliche Wärme abgaben.
Niemals hatten wir den Eindruck, unser Stubentiger vermisse das Mäusefangen und das Herumstreunen im Freien. Muschka konzentrierte sich auf die Geschehnisse innerhalb unserer vier Wände. Den langen Wohnungsflur nutzte sie täglich für waghalsige Sprints. Den Abschluss des Wettrennens gegen sich selbst bildete ein gewagter Sprung in die leere Badewanne, wo sie sich wohlig schnurrend auf dem Rücken wälzte. Die Betonung liegt auf leere.
Eines Tages passierte, was passieren musste. Ich ließ mir ein Bad ein und vergaß die Tür zu schließen. Unsere Prinzessin raste, wie gewohnt, den Flur hoch und runter und bog dann in Richtung Badezimmer ab. Sekunden später hörte ich das platschende Geräusch einer Katze, die in eine gefüllte Badewanne eintaucht. Panikerfüllt wollte ich das wasserscheue Tier vor dem Ertrinken retten, da schoss es bereits triefend und fauchend aus der Wanne. Muschka flüchtete sich unter das Bett, um dort stundenlang ihr Fell zu putzen. An diesem Tag klang kein energisches Miau mehr durch unser Zuhause, niemand lief uns vor die Füße und brachte uns dabei fast zu Fall, mit anderen Worten: Wir hatten katzenfrei.
Neben dem Kätzchen lebten in unserem Haushalt noch die Wellensittiche Toni und Vroni. Zu ihrer Sicherheit wohnten sie in einem geräumigen Käfig auf dem Kinderzimmerschrank und schnäbelten den ganzen Tag gut gelaunt vor sich hin. Die Siamesin wollte sie gerne kennenlernen und hangelte sich daher täglich an den Vorhängen hoch, um aus sicherer Entfernung zumindest einen Blick auf die beiden zu werfen.
Eines Tages lief mein Vater nur leicht bekleidet durch mein Zimmer. Er überlegte gerade, was er eigentlich suchte, als die Katze ihre scharfen Krallen in seine kaum bedeckte Haut versenkte. Auf der Schulter hockend schaute sie triumphierend in den Käfig. Der große Mann gönnte ihr nur einen kurzen Blick auf die beiden grünen Piepmätze. Dann segelte das braun-weiße Tier im hohen Bogen wie ein Adler durch den Raum und landete unsanft auf dem Boden. Auch an diesem Tag ward sie nicht mehr gesehen. Sie schmollte in der dunkelsten Ecke und überlegte wahrscheinlich, was sie falsch gemacht hatte.
Ab und zu durfte unser Schätzchen zum Luftschnappen auf den Balkon. Schmale Durchlässe zu den Nachbarn waren hermetisch abgeriegelt. Meistens hockte Muschka auf einer Bank, schnupperte die frische Grüngürtelluft und lauschte dem Singen der Vögel. Flog ein gefiederter Freund vorbei, entfuhren ihrer Kehle gackernde Laute, die wie das Lachen eines alten Mütterchens klangen. Wir ließen sie dabei natürlich nie aus den Augen.
Eines konnte unser Schatz absolut nicht ausstehen: geschlossene Türen! Bereits in jungen Jahren entwickelte Muschka eine Technik, um Abhilfe zu schaffen, wenn wir ihr den Zugang zu unseren Schlafgemächern verwehrten. Vorzugsweise nachts setzte sie athletisch zum Sprung an, umklammerte mit den Vorderpfoten die Klinke der jeweiligen Tür und kam, wie das Pendel einer großen Uhr hin- und herschwingend, ins Zimmer geschwebt. Dort fiel das cremefarbene Tier mit dem dunkelbraunen Gesicht wie ein Tropfen auf die Erde.
Muschkas Talent lernten wir schätzen, als wir an einem sonnigen Frühlingswochenende in einen Kurzurlaub in die Eifel starten wollten.
Eifrig schleppten wir Körbe, Taschen, Kühlboxen und Katzenstreu durch den Hausflur und stapelten den ganzen Krempel vor dem Aufzug. Unser Liebling sollte zuletzt die Heimstatt verlassen. Dazu kam es leider nicht mehr.
Wir Menschen befanden uns allesamt im Hausflur, als die Wohnungstür mit einem schmatzenden Klack ins Schloss fiel. Der Schlüssel lag gemeinsam mit der Königin der Klinken, der Weltmeisterin im Türe-Öffnen, in der Wohnung. Das machte uns Hoffnung, das Problem sei in Kürze aus der Welt geschafft.
Durch die geschlossene Tür hörten wir die aufdringliche Stimme unseres kleinen Rackers, der gerne wissen wollte, was los sei. Wir raspelten Süßholz ohne Ende.
„Muschka, mach hopp!“ war nur einer der dämlichen Sprüche, die wir losließen.
„Gleich gibt es Leckerchen!“ ein anderer. Die Nachbarn waren entweder abwesend oder stellten sich taub.
Unser Stubenhocker maunzte, schien sich plötzlich jedoch an alle verbalen Gemeinheiten seiner Mitbewohner zu erinnern. Zum Beispiel an meinen Standardsatz: „Hau ab, ich will schlafen.“
Daher ließ uns Muschka zappeln. Ihre Stimme entfernte sich. Wir hörten den Napf über den Küchenboden scharren und das harte Trockenfutter zwischen ihren kräftigen Zähnen krachend zerbersten. Eine Tür auf Kommando zu öffnen, widerstrebte ihr, das machte sie uns deutlich. Vielleicht erkannte sie aber auch den Ernst der Lage nicht.
Mein Vater kapitulierte als Erster. Der Vizechef – das eigentliche Familienoberhaupt befand sich ja drinnen – rief: „Ich hole den Schlüsseldienst.“ Mit gesenkten Häuptern folgten wir ihm zum Aufzug. Wir drückten soeben den Knopf, da ertönte aus Richtung unserer Wohnung ein lautes Krachen, als hätte jemand gegen die Tür getreten. Wir rasten zurück und erblickten den kleinen braunen Kopf mit den stahlblauen Augen, der um die Ecke lugte. Der Blick schien zu sagen: „Wartet, ich komme mit.“ Sie hatte ihre Reifeprüfung bestanden. An diesem Tag hätten wir sie vor lauter Freude und Erleichterung beinahe zu Tode gedrückt. Zum Glück hat sie uns noch jahrelang viel Freude bereitet.
Erschienen 2019 in der Anthologie „Auf Samtpfoten leise durch die Nacht“, Papierfresserchens MTM-Verlag, Herausgeberin Martina Meier.